Glück 7.5: Vollkommen sein in der Liebe – Matthäus 5, 43-48

Teilnehmer 7: Ich bin verblüfft – mehrfach. Das ist ja genau das, was Jesus in der Bergpredigt sagt. Und nicht nur er sagt es, sondern es steht schon im Alten Testament, in dem doch anscheinend ganze Völker mit Billigung Gottes dahingeschlachtet werden. Die Rache behält sich Gott vor nach 5. Mose 32,35. Gilt das nur individuell innerhalb des Volkes Israel? Und ebenso das mit Speis und Trank für die Feinde? Oder haben wir da etwas übersehen?

 

Teilnehmer 8: Ja, ich glaube, wir haben etwas übersehen. Frieden stiften nach Matthäus 5,9 – das gilt nicht nur für Individuen in der Gemeinde Christi oder im Volk Israel – das gilt generell gegenüber allen Menschen und es gilt ebenso zwischen Völkern. Weil Gott alle Menschen liebt und will, dass allen Menschen geholfen wird.

 

Teilnehmer 9: Ja, Jesus macht das seinen Aposteln ganz klar in Bezug auf einige feindselige Samariter. Lukas 9: „51 Es begab sich aber, als die Zeit erfüllt war, dass er hinweggenommen werden sollte, da wandte er sein Angesicht, stracks nach Jerusalem zu wandern. 52 Und er sandte Boten vor sich her; die gingen hin und kamen in ein Dorf der Samariter, ihm Herberge zu bereiten. 53 Und sie nahmen ihn nicht auf, weil er sein Angesicht gewandt hatte, nach Jerusalem zu wandern. 54 Als aber das seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre. 55 Jesus aber wandte sich um und wies sie zurecht. 56 Und sie gingen in ein andres Dorf.“

 

Teilnehmer 10: Die Dramatik dieses Geschehens wird noch viel deutlicher, wenn wir eine Passage einfügen, die die Lutherbibel 1984 noch in der Fußnote erwähnt,[1] die aber die Lutherbibel 2017 ganz weglässt. Nach der Schlachter-Bibel 2000 lauten die Verse 55 und 56: „55 Er aber wandte sich um und ermahnte sie ernstlich und sprach: Wisst ihr nicht, welches Geistes [Kinder] ihr seid? 56 Denn der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um die Seelen[2] der Menschen zu verderben, sondern zu erretten! Und sie zogen in ein anderes Dorf.“

 

Teilnehmer 11: Das heißt, dass Gott im Alten Testament manches völkermordende Verhalten des Volkes Israel geschehen lässt, obwohl es nicht seiner Absicht entspricht?

 

Teilnehmer 12: So sieht es aus. Das lässt sich an vielen Beispielen zeigen,[3] obwohl ich einräumen möchte, dass unser HErr Jesus an keiner Stelle Soldaten dazu auffordert, ihren Beruf aufzugeben. Die Berufspflicht zu tun, auch wenn das bedeutet, Menschen zu töten,[4] ist eine Sache. Menschen zu hassen, egal, was sie getan haben und egal, ob sie Gegner oder Feinde sind, ist eine ganz andere Sache.

 

Teilnehmer 1: Oh. Jetzt ahne ich immer mehr, dass Jesus in der Bergpredigt das Alte Testament völlig anders interpretiert als die traditionellen Schriftgelehrten und Pharisäer. Er sagt ja in Matthäus 5, 20: „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

 

Teilnehmer 5: Was natürlich zur Warnung auch an den Pharisäer in uns und in manchen Fällen auch an den Schriftgelehrten unter uns gerichtet ist.

 

Teilnehmer 2: Und herausfordernd für uns wie für jene Pharisäer und Schriftgelehrte ist die Feindesliebe, die Jesus in der Bergpredigt in Matthäus 5 anspricht: „43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

 

Teilnehmer 3: In einer Fußnote weist die Lutherbibel 1984 darauf hin, dass im Alten Testament nirgendwo davon die Rede ist, den Feind zu hassen.

 

Teilnehmer 4: Ja, das ist ein guter Hinweis darauf, dass Gott niemanden hasst, sondern alle Menschen liebt, und dass Israel über das göttliche Maß hinaus geht, wenn es aus eigenem Antrieb oder auf Befehl seiner geistlichen oder weltlichen Führer ganze Völkerscharen samt Frauen und Kinder abschlachtet oder Menschen hasst, nur weil sie zum Beispiel arabische Palästinenser sind.

 


[1] Der Grund für die Marginalisierung oder gar Weglassung wird darin gesehen, dass diese Passage nur in älteren alten Skripten vorkommt. Dabei wird nicht bedacht, dass ältere Skripten durchaus näher am bisher nicht aufgefundenen Original sein können, weil sie auf vollständigere Quellen zurückgehen können.

[2] Es geht hier nicht um „Seelen“ etwa im Gegensatz zum Körper, sondern schlicht um das Leben der Menschen. Die „Unsterblichkeit der Seele“ etwa im Gegensatz zum sterblichen Körper ist ein griechisches Konzept und nicht Inhalt der Bibel. Vgl. zum komplexen Bedeutungsfeld des griechischen Ausdrucks für ψυχη Menge-Güthling, S. 757, und beachte insbesondere die Bedeutung 1: „Lebenskraft, Lebensodem, Leben“.

[3] Vgl. dazu Adrian Ebens, Agape, a.a.O.

[4] Vgl. dazu Römer 13,4.

 

Titelbild: Indische Banknote mit dem Porträt Mahatma Gandhis. Ob Gandhi seine Feinde liebte, mag dahingestellt bleiben. Aber sein gewaltfreier Umgang mit einem gewalttätigen Gegner bleibt vorbildlich. Bild von Melanie Simon auf pixabay.com/de.


 

 

Teilnehmer 5: Das kann aber auch aus reiner Überlebensnotwendigkeit und ohne Hass und eben auch vor allem auf Befehl geschehen.

 

Teilnehmer 6: Das mag sein und schließt auf jeden Fall jede Form von Mordlust aus. Ich möchte an dieser Stelle auf das Zeugnis eines deutschen Soldaten des 2. Weltkrieges hinweisen, der als Soldat seine Pflicht getan hat und gleichzeitig Zeichen der Liebe gegenüber Freund und Feind – oder besser gesagt: Gegner - gesetzt hat: Pater Gereon Goldmann.[1]

 

Teilnehmer 7: Und mir fällt Corrie ten Boom ein, die ihren Peinigern im KZ vergibt und einige von ihnen für Christus gewinnt.

 

Teilnehmer 8: Damit sind wir aber wieder bei Individuen und ihre Einstellung und ihr Verhalten gegenüber denen, die sie persönlich drangsalieren – nach eigenen Gutdünken oder auf Befehl. Denen zu vergeben, besonders, wenn sie aus eigenem Antrieb handeln, scheint mir übermenschlich.

 

Teilnehmer 9: Das geht wohl auch nur in der Kraft Gottes, der Kraft aus der Höhe, auch heiliger Geist genannt. Bzw. aus der Liebe heraus, die Gott in unser Herz gesandt hat.[2]

 

Teilnehmer 10: Mich erschrickt Vers 48 in Matthäus 5: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Vollkommen – das werde ich doch nie.[3]

 

Teilnehmer 11: Vielleicht verstehen wir wieder etwas nicht ganz richtig. Vielleicht hilft eine Betrachtung des griechischen Wortes an dieser Stelle. Es heißt τελειος, und darin steckt die Bedeutung von τελος, Ziel. Wir könnten den Satz εσεσθε ουν υμεις τελειοι ωσπερ ο πατηρ υμων ο εν τοις ουρανοις τελειος εστιν also auch wie folgt übersetzen: Darum sollt ihr das Ziel haben, vollendet, reif zu lieben (es geht ja hier um „lieben“), wie euer himmlischer Vater vollendet liebt.

 

Teilnehmer 1: Das heißt mit anderen Worten, dass Jesus uns als seine Schüler auffordert, in unserem geistlichen Prozess der vollendeten Liebe nachzustreben und eben auch die zu lieben, die uns feindlich gegenüber treten. Er fordert uns auf, den himmlischen Vater nachzuahmen, der das Ziel dieses Prozesses verkörpert und der am Ziel ist und der immer schon am Ziel war.

 

Teilnehmer 12: Das leuchtet mir ein. Nur wenn wir uns vom Vater vollendet geliebt wissen, etwas, das sowohl Pater Goldmann wie Corrie ten Boom auszeichnet, können wir wohl in die Liebe hineinwachsen, die Jesus uns hier vorschlägt und die er selbst gelebt hat – nicht zuletzt Abel vor Augen, der sich nicht wehrte, als Kain ihn erschlug, und vielleicht, damit Jesus ein Vorbild hat. Beide sind mit ihrer Liebe bis zum Äußersten gegangen – damit wir so weit gehen, wie es in unserem Leben Segen bringt.

 

Teilnehmer 2: Vielleicht hilft es hier oder da, wenn ich – der Youngs Concordance folgend – noch einige Bibelstellen anführe, in denen τελειος im Sinne von „vollkommen“ oder vielleicht besser „vollendet“ vorkommt: Matthäus 19, 21; Römer 12,2; Epheser 4,13; Philipper 3,15; Kolosser 1,28; 4,12; Hebräer 9,11; Jakobus 1,4; 17; 25; 3,2; 1. Johannes 4,18.[4]

 

Teilnehmer 3: Die Lutherbibel übersetzt noch ein anderes griechischen Wort mit „vollkommen“, und zwar das Wort αρτιος in 2. Timotheus 3, 16: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, 17 dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“

 

Teilnehmer 4: Nach Youngs Concordance kommt dieses Wort nur an dieser Stelle vor. Nach Menge-Güthling hat es auch Bedeutungen wie „von der rechten Beschaffenheit, fehlerfrei, genau, treffend“. Es hängt mit dem Verb αρτυω bzw. αρτυνω zusammen: zusammenfügen, zurüsten etc.[5] Und wiederum mit den Verben εξαρτιζω, das Menge-Güthling direkt mit αρτιος in Verbindung bringt, und εξαρτυω zusammen mit den Bedeutungen ausrichten, vollenden, ausrüsten, einrichten[6] – zum Beispiel ein Schiff vollständig ausrüsten.

 

Teilnehmer 5: Das ist ja schön. Aber was sagt mir das alles?

 

Teilnehmer 6: Vielleicht nur dies: Wenn wir wissen wollen, wie wir auf dem Weg zur vollendeten Liebe, in der „Kunst der Liebe“, vorwärts kommen wollen, lassen wir uns am besten in der Gerechtigkeit erziehen, wie sie in den Schriften beschrieben wird, die Gott eingegeben oder eingehaucht – griechisch θεοπνευστος – hat, also (vor allem) in den Schriften der Bibel.

 

Teilnehmer 7: Anders herum gesagt: Möge uns das intensive Studium der Bibel helfen, vollendet zu lieben, also auch die Feinde – seien es nun einzelne Personen, Gruppen oder Völker - zu lieben und nicht in Schriftgelehrsamkeit hängen zu bleiben.

 

[1] Pater Gereon Goldmann: Tödliche Schatten – Tröstendes Licht. Ein Franziskaner in Uniform, EOS Verlag Erzabtei Sankt Ottilien, 17. Auflage 2012. Englische Originalausgabe: The Shadow of His Wings, Franciscan Herald Press, Chicago 1964.

[2] Das betonte Aha. Vgl. z.B. Römer 5,5 in Verbindung mit 2. Korinther 4,6.

[3] In die Richtung äußerte sich BWL.

[4] Robert Young, Analytical Concordance to the Holy Bible, 8. Ausgabe, Guildford and London 1977, S. 745. Die Concordance übersetzt hier „perfect“ mit „ended, complete“.

[5] Menge-Güthling, S. 110.

[6] Menge-Güthling, S. 247 f.