Offb. 1.2: Keine „Naherwartung“ der Rückkehr Christi

 

John: Zweite Frage: Wann sollen die offenbarten Ereignisse geschehen?

 

Robert: In Kürze – siehe Vers 1.

 

Kurt: Arnold Fruchtenbaum vertritt die Auffassung, dass der griechische Ausdruck εν ταχει (en tachei) hier bedeutet, dass es schnell geschieht, wenn die Zeit reif ist. Und wann die Zeit reif ist, ist zunächst einmal unbekannt.

 

Heinrich: Das könnte sein, aber wenn wir Vers 3 einbeziehen – „die Zeit ist nahe“ - , dann scheidet diese Möglichkeit wohl aus.[1]

 

Werner: Den Ausdruck εν ταχει finden wir auch in Lukas 18, 7-8, wo der Richter der Witwe in Kürze ihr Recht verschaffen wird. Das ist gleichbedeutend mit, dass er es schnell tun wird. Weil die Zeit dafür jetzt (!) reif ist, nicht irgendwann einmal.

 

Kurt: Hier in der Offenbarung des Johannes geht es nach Arnold Fruchtenbaum bei dem Ausdruck «die Zeit ist nahe» aber nicht darum, dass die offenbarten Geschehnisse nahe sind, sondern dass die Zeit dafür nahe ist, dass die Leser und Zuhörer erfahren, wie es geschieht.

 

Meinhard: Auch dieser Punkt lässt sich dann wohl erst bei fortgeschrittener Lektüre der Offenbarung des Johannes klären.

 

BWL: Mich wundert das Wort „in Kürze“ nach wie vor. Gilt hier der Vers 4 aus Psalm 90, nämlich „Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.“?[2]

 

Heinrich: Das ist denn doch eine entscheidende Frage für die Zeitbestimmung. Doch „in Kürze“ bleibt „in Kürze“. Denn Vers 4 in Psalm 90 ist offensichtlich eine Erläuterung zu Vers 3 in Psalm 90. Der lautet: Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!“ Es geht offenkundig um die Zeitspanne zwischen Tod und Auferstehung. Die ist für Gott in jedem Fall kurz. Nach unserem Kalender kann sie sehr lang sein und währt für manche Menschen schon fast 6000 Jahre.

 

Friedrich: Aber das erleben die Gestorbenen natürlich nicht. In ihrem Erleben erfolgt die Auferweckung unmittelbar nach ihrem Tod, obwohl objektiv tausende von Jahren dazwischen liegen mögen.

 

Kurt: Meines Erachtens gilt Psalm 90, Vers 4, auch für die Verheißung an David, dass sein Nachkomme ewig auf Davids Thron sitzt, oder?

 

Leonhard: Auch Petrus zitiert Vers 4 aus Psalm 90, und zwar im Zusammenhang mit dem Wiederkommen des Messias und dem Gericht Gottes: „3 Ihr sollt vor allem wissen, dass in den letzten Tagen Spötter kommen werden, die ihren Spott treiben, ihren eigenen Begierden nachgehen 4 und sagen: Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist. 5 Denn sie wollen nichts davon wissen, dass der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte durch Gottes Wort; 6 dadurch wurde damals die Welt in der Sintflut vernichtet. 7 So werden auch jetzt Himmel und Erde durch dasselbe Wort aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts[3] und der Verdammnis[4] der gottlosen Menschen. 8 Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag[5]. 9 Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. 10 Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden nicht mehr zu finden sein. 11 Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, 12 die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und ihm entgegeneilt, wenn die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen. 13 Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“[6]

 


[1] Vgl. Werner Bartl, Vergangenes oder Zukunft? Eine Betrachtung der Prophetien Jesu im Matthäusevangelium und in der Offenbarung Jesu Christi, Zypern 1999, S. 47 f.

[2] Die Frage stellte BWL.

[3] Griechisch: κρισεως (krise-oos) – auch: Unterscheidung.

[4] Griechisch: απωλειας (apole-ias) – Interlinear: Verderbens.

[5] Unterstreichung hinzugefügt, um das Zitat aus Vers 4 von Psalm 90 deutlich zu machen.

[6] 2. Petrus 3, 3-13.

 

 

Meinhard: OK. Hier ist offensichtlich vom großen Gerichtstag Gottes die Rede, von dem niemand weiß, wann er kommt, der aber die Auferstehung der Toten beinhaltet oder voraussetzt. Der Gerichtstag Gottes kommt wie ein Dieb: heimlich, unvorhergesehen, schnell. Dann wird unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit erfüllt. Und das kann noch dauern: tausend Jahre sind wie ein Tag. Die ersten Christen hatten keine „Naherwartung“ der Rückkehr Christi und des Gerichts Gottes, wie wir an dem Zitat aus dem 2. Petrusbrief sehen.[1]

 

Georg: Da bin ich anderer Auffassung. Wenn die Menschen fragen „Wo bleibt die Verheißung seines Kommens?“ zeigt das doch, dass sie über eine solche offensichtlich vorhandene Naherwartung spotten. Und wenn Paulus in 1. Thessalonicher 4, Vers 15, schreibt: „wir, die wir leben und übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn“, dann kommt da genau diese Naherwartung zum Ausdruck.

 

Heinrich: Hat sich also bei Paulus ein Fehler eingeschlichen?

 

Georg: Ich meine schon, dass es Auffassungsunterschiede zwischen den ersten und den späteren Paulusbriefen gibt. Das ist eben das menschliche Element.

 

Heinrich: Das stellt aber die Verlässlichkeit des Wortes Gottes in Frage. Da bleibe ich lieber bei 2. Petrus 1, 20-21: „20Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift aus eigener Auslegung geschieht. 21Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“

 

Robert: Wenn wir den griechischen Text in 1. Thessalonicher 4, Vers 15, genauer betrachten, schreibt Paulus der Interlinear zufolge: „ Denn dies euch sagen wir mit einem Wort (des) Herrn, dass wir, die Lebenden, die Übrigbleibenden (ημεις οι ζωντες οι περιλειπομενοι) bis zur Ankunft des Herrn keinesfalls zuvorkommen werden den Entschlafenen;“ Es geht um den Trost über die Entschlafenen, denen die Lebenden nicht zuvorkommen werden. Zu den Lebenden gehört Paulus bei Abfassung seines Briefes. Aber dann schränkt er für seine Aussage das „wir, die Lebenden“ weiter ein mit „die Übrigbleibenden bis zur Ankunft des Herrn“. Da können viele von den „Wir, die Lebenden“ schon gestorben sein und ihre Übriggebliebenen brauchen auch den Trost der Auferweckung.

 

Heinrich: Ok. Das Zitat aus dem 2. Petrus-Brief zwingt mich aber in der Tat, noch einmal nachzudenken. Vielleicht bringt es mich zur Präzisierung einer Frage. Bei Petrus geht es um die Rückkehr Christi. Und damit um die Auferweckung bzw. der körperlichen Verwandlung der Christen. Darum könnte es in den späteren Kapiteln der Offenbarung des Johannes tatsächlich gehen. Aber das, worum es in der Offenbarung des Johannes zunächst geht, eben vielleicht die Zerstörung Jerusalems, könnte damals, als Johannes die Offenbarung empfing, in Kürze geschehen.

 

Kurt: Mich beschäftigt noch eine andere Frage. Was genau ist der „Tag des Herrn“? Umfasst er die Rückkehr Christi? Das Gericht Gottes? Und die Entstehung eines neuen Himmels und einer neuen Erde? Ist es nicht nur ein Tag, sondern ein ganzer Zeitabschnitt oder gar mehrere Zeitabschnitte? Vielleicht gibt auch darüber die Offenbarung im weiteren Verlauf wichtige Hinweise.

 

Meinhard: Und vielleicht ist das verbunden mit der Frage, was eigentlich der Sinn und Zweck der Offenbarung des Johannes ist. Dieser Frage sollten wir uns erst zuwenden.

 

 

 



[1] Vgl. zum Beispiel Klaus Berger, Die Bibelfälscher, Pattloch 2013, S. 20-17. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titelbild: Prof. Dr. Klaus Berger.

Klaus Berger war ein – ursprünglich katholischer, später evangelischer – deutscher Theologe. Er war Professor für Neutestamentliche Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Wikipedia
Geboren: 25. November 1940, Hildesheim
Verstorben: 8. Juni 2020, Heidelberg